Brav und gelassen? Oder doch vielleicht eher resigniert? Oder ist gar erlernte Hilflosigkeit im Spiel? Schaut man genauer hin, so sieht man manches plötzlich möglicherweise in einem ganz anderen Licht.
Das Trainingsziel vieler Freizeitreiter ist ein braves, gelassenes, zuverlässiges Pferd. Wir möchten entspannt ausreiten, ab und zu mit unserem Pferd auch mal auswärts an Kursen, Wanderritten oder kleinen Turnieren teilnehmen, das Pferd ein wenig auf dem Platz gymnastizieren und vielleicht ein bisschen Spaß bei der Bodenarbeit haben.
Das Pferd soll einfach artig und unkompliziert im Umgang sein, in jeder Situation zuverlässig „funktionieren“. Und wir freuen uns sehr, wenn dieses Pferd uns auch noch überall frei folgt. Einen größeren Beweis, dass die Beziehung stimmt, gibt es doch nicht, oder?
Unsere Cimbria war ein solches Pferd. Eigentlich hätte ich also glücklich sein können! Wenn sie nicht so viele gesundheitliche Probleme und so einen traurigen Blick gehabt hätte...
Cimbria kam im Mai 2002 zu uns. Sie ist eine Import-Tinkerstute aus Irland. Wir hatten sie als braves Kinderpony bei einer Händlerin gekauft. Und brav schien sie zu sein! Sie wirkte zwar etwas traurig und in sich gekehrt, war aber sehr gelassen und cool in allen Situationen. Und sie folgte uns gerne bei der Stallarbeit auf Schritt und Tritt. Die anderen Pferde in der Herde interessierten sie wenig bis gar nicht. So konnte man mit ihr problemlos alleine ins Gelände gehen, Kurse besuchen und sie auch mal alleine zuhause lassen. Ein äußerst unkompliziertes Pony! Die Offenstallhaltung in kleiner Herde direkt hier bei uns zu Hause tat ihr gut. Sie gewann etwas Selbstvertrauen, wirkte nach und nach offener und fröhlicher. Bei der Arbeit war sie sehr sensibel. Man konnte und musste immer sehr fein mit ihr arbeiten. Laute Worte oder gar Strafe waren bei ihr nie nötig – sie machte ja alles bereitwillig mit und gab sich sehr viel Mühe. Bis auf ihren Gesundheitszustand war also eigentlich alles perfekt. Sie litt unter hartnäckigem Durchfall und/oder Kotwasser.
Vier Jahre war Cimbria schon bei uns, als wir die Verhaltensbiologin Marlitt Wendt für einen Zirkuslektionenkurs bei uns auf der Wiese buchten. Marlitt Wendt nutzte auch damals schon das Clickertraining in der Pferdeausbildung. Cimbria sollte also zunächst auf den Clicker konditioniert werden. Aber wie es so ihre Art war, stand Cimbria einfach nur so da und wirkte (auf mich) eher gelangweilt. Mich wunderte das nicht weiter, denn Leckerlis interessierten Cimbria ja nie so sehr. Sie tat also so, als würde sie das alles nichts angehen. Es war für mich schon recht erschütternd, als Marlitt sagte: „Das ist ein ganz typisches Verhalten für ein Pferd in der erlernten Hilflosigkeit.“ Meine erste Reaktion war: „Nein, das kann nicht sein!“ Wir gingen doch so liebevoll mit ihr um! Und auch, wenn sie als „gebrochenes“ Pony zu uns kam – inzwischen dürfte das doch kein Problem mehr sein? Das müsste sie doch längst abgelegt haben? Und sie hatte doch schon längst nicht mehr diesen traurigen Blick?
Was versteht man unter "erlernter Hilflosigkeit"?
Der Begriff “erlernte Hilflosigkeit” wurde von den amerikanischen Psychologen Martin E. P. Seligman und Steven F. Maier geprägt. Dieses Phänomen wurde zufällig in Tierversuchen entdeckt und als ein möglicher Erklärungsversuch für Depressionen beim Menschen dann gründlicher erforscht. Das zeigt schon, wie eng „erlernte Hilflosigkeit“ und „Depressionen“ (die man ja inzwischen auch bei Pferden festgestellt hat) beieinander liegen.
In diesen Tierversuchen fand man heraus, dass Hunde, die Stromschlägen ausgesetzt wurden und keine Möglichkeit hatten, etwas dagegen zu tun, in weiteren Versuchen gar nicht mehr versuchten, den Stromschlägen zu entgehen. Sie blieben lethargisch, auch wenn sie schließlich die Möglichkeit hatten, dieser unangenehmen Situation ganz einfach zu entkommen. Erlernte Hilflosigkeit entsteht also aus der Erfahrung, dass man nicht durch sein eigenes Verhalten in der Lage ist, eine unangenehme Situation zu beenden. Und dieses Gefühl hält auch noch an, wenn eigentlich längst die Möglichkeit bestünde, sich selber zu helfen. Außerdem wird dieses Gefühl generalisiert. Das bedeutet, es wird auf viele ähnlich gelagerte Situationen übertragen.
Wenn wir darüber nun etwas nachdenken, so entdecken wir viele Situationen, in denen Pferde nicht in der Lage sind, unangenehme Situationen zu beenden.
Schon die Haltung unserer Pferde schränkt sie häufig sehr ein. Sie können ihren natürlichen Bedürfnissen oft nur unzureichend nachkommen – können das aber nicht verändern. Da gibt es zu enge Paddocks für zu viele Pferde, Freunde werden auseinandergerissen, es gibt zu enge Boxen mit ungeliebten Nachbarn, denen man nicht entfliehen kann und vieles mehr...
Aber besonders in seiner Ausbildung gerät das Pferd oft in Situationen, die es resignieren lassen. Es zieht sich immer mehr in sich zurück, weil es lernt, dass Eigeninitiative nicht erwünscht ist. Der Mensch bestimmt die Regeln, das Pferd hat wenig bis keine Möglichkeit selbstständig zu handeln. In vielen Ausbildungssystemen wird das Pferd über den Aufbau von Druck dazu gebracht, das zu tun, was der Mensch wünscht. Reaktionen, die dabei gerade nicht gefragt sind, werden vom Menschen unterbunden, manchmal sogar gestraft. Der Mensch kontrolliert also die Situation und das Pferd gibt irgendwann auf, eigenständig neues Verhalten zu zeigen. Es zeigt nur noch die Verhaltensweisen, die der Mensch ihm vorgibt.
Auch viele eigentlich spielerisch und nett gedachte Aktionen wie z.B. das wichtige Anti-Schreck-Training können Risiken in sich bergen: So neigen z.B. Tinker (aber auch viele Pferde anderer Rassen zum passiven Stress und erstarren (sie ziehen sich also in sich zurück) in Stresssituationen. Oft wird dieser passive Stress darum von uns gar nicht als Stressreaktion wahrgenommen.
So wird das scheinbar so gelassene Pferd sehr zügig mit Angst einflößenden Dingen konfrontiert. Und weil das Pferd so cool scheint und ja einfach nur so dasteht, wird ein „Gruselgegenstand“ nach dem anderen geholt und oft genug dann auch noch als Krönung eine Plane über den Kopf gezogen. Wie mag sich ein Pferd fühlen, das schon beim Anblick des Regenschirms erstarrt und sich nicht mehr bewegen mag und dann stülpen wir Menschen ihm in kürzester Zeit noch mehr und mehr „Schreckmonster“ über und zu guter Letzt kann es nichts mehr sehen?
Auf dem Foto oben sieht man Cimbria im Hintergrund. Sie zeigt nur scheinbar so gar kein Interesse am Regenschirm. In diesem Moment war sie überrumpelt vom schnellen Auftauchen des Schirms. Es überforderte sie, sich damit auseinanderzusetzen. Wir hätten sie in einem solchen Moment überall mit dem Schirm berühren können – sie hätte sich nicht bewegt. Positives Lernen ist jedoch in einem solchen Moment nicht möglich. Erst kurze Zeit später (unteres Foto) war sie bereit, sich den Schirm anzusehen. Man sieht ihren doch misstrauischen Blick, obwohl sie vorher ja scheinbar so ruhig war. Aber auf dem unteren Foto setzt sie sich mit dem Schirm auseinander. Sie wird in solchen Momenten weder festgehalten noch in irgendeiner Form (z.B. Schirm auf sie zubewegen) zu etwas gezwungen.
Sie hat die Freiheit, jederzeit zu gehen. Nur so ist für sie Lernen möglich. Überfordert man sie in solchen Momenten durch zu forsches Vorgehen, zieht sie sich sofort in sich zurück.
Ein wenig anders verläuft solches Anti-Schreck-Training häufig bei Pferden, die deutlich nach außen ihren Stress zeigen. Denn das ist für uns Menschen ein problematisches Verhalten. Darum werden diese Pferde oft genug durch das sogenannte „Aussacken“ dazu gebracht, Angst einflößende Dinge zu erdulden. Sie werden festgehalten und so lange mit dem “Gruselmonster” konfrontiert, bis sie ihre Fluchtversuche aufgeben. Aber was haben sie dabei gelernt? Haben sie gelernt, sich Neues anzuschauen und sich damit auseinanderzusetzen? Oder haben sie vielleicht doch eher gelernt: „Ich kann nichts dagegen tun. Also verhalte ich mich passiv und warte, bis es vorbei ist.“?
In diesem Zustand der Resignation also befand sich Cimbria auch nach fast vier Jahren eigentlich liebevoller Behandlung. Tatsächlich aber bin ich in diesen vier Jahren gar nicht auf die Idee gekommen, sie zu eigenständigem Verhalten zu ermutigen. Wir waren immer nett zu ihr, aber trotzdem kontrollierten wir jeweils die Situation. Denn so lesen und lernen wir es immer wieder: Der Mensch muss bestimmen, wo es lang geht. Ein eigenmächtig entscheidendes Pferd könnte gefährlich werden.
So hatte sie eigentlich gar keine Chance, wirklich aus diesem Zustand herauszukommen. Wir hatten sie zwar nicht in die erlernte Hilflosigkeit hineingebracht, wir hatten sie aber auch nicht aus diesem Zustand befreit. Wir arbeiteten sehr nett mit ihr und mit viel Lob, aber doch innerhalb eines Systems, das sie kannte. Sie wusste: Der Mensch gibt vor, das Pferd hat prompt zu reagieren, ansonsten kann es unangenehm werden.
Cimbrias Konditionierung auf den Clicker während des Kurses mit Marlitt verlief also recht zäh (2. Foto von oben). Mir juckte es in den Fingern, ein wenig nachzuhelfen, um das Ganze zu beschleunigen. Marlitt jedoch passte auf, dass wir Cimbria nicht in irgendeiner Form überredeten. Denn für Cimbria war es wichtig zu sehen: Dieses hier ist komplett anders. Es gibt keinen Druck, keinen Zwang, kein „Nein!“ und auch kein „Falsch!“. Statt dessen sind freie Entscheidungen und Ausprobieren erwünscht und werden belohnt.
Und genau das begriff Cimbria. Ihre Augen wurden mit jeder Übungseinheit lebendiger, sie wurde nach und nach fröhlicher und wacher. So war bald klar, dass ich all das, was ich bisher mit den Pferden getan hatte, einfach über Bord warf. Wir begannen komplett neu, nutzten das Clickertraining als Kommunikationsform in allen Bereichen, legten dadurch den Schwerpunkt darauf, sie zu ermutigen. In neuen Situationen verfiel sie noch eine Weile in ihre Muster zurück. In bestimmten Situationen kann das sogar bis heute passieren. Erlernte Hilflosigkeit sitzt sehr tief und lässt sich nicht einfach von heute auf morgen löschen. Dieses Gefühl bleibt für immer Bestandteil der Gefühlswelt von betroffenen Pferden. Aber insgesamt war es erstaunlich, wie schnell sich ihre ganze Ausstrahlung veränderte. Anfangs war das nicht immer leicht. Auch im Gelände begann sie, ihre Umgebung wieder viel aktiver wahrzunehmen. Sie schaute mehr umher, wirkte manchmal, als hätte sie all das noch nicht gesehen. So scheute sie in dieser Zeit auch häufiger. Und sie zeigte Freude, aber durchaus auch Unwillen. Im Laufe diese Veränderung änderte sich auch ihr Gesundheitszustand: Keine Kotwasser- und Durchfallprobleme mehr!
Cimbria begann also, viel stärker zu zeigen, was sie mochte und was nicht und wir lernten von Marlitt Wendt auf weiteren Kursen, immer besser zu verstehen.
Auch noch Jahre nach diesem für uns so entscheidenden Umbruch konnte ich nur staunen: Cimbria blühte immer weiter auf, war immer noch (bzw. wieder) ein sehr braves Pony - aber mit fröhlichen, offenen Augen und ohne die früheren gesundheitlichen Problem. Immer noch hätten wir all die eingangs erwähnten Dinge mit ihr unternehmen können – taten es aber nicht. Denn wir hatten gelernt zu sehen, was sie wirklich mag und was sie nur erduldet. Darauf nahmen und nehmen wir gerne Rücksicht, denn sie dankt es uns mit echter Zuneigung und Freundschaft. Inzwischen ist sie wohl ca. 30 Jahre alt und immer noch hat sie großen Spaß daran, neue Dinge zu lernen. Jetzt im Alter ist es noch einmal ganz besonders wichtig geworden, dass sie so intensiv mit uns kommuniziert und uns jeweils sehr deutlich ihr Befinden und ihre Wünsche zeigt, denn natürlich haben sich im Laufe der Jahre nun auch bei ihr ein paar altersbedingte gesundheitliche Probleme eingestellt. Durch ihre so offene Art kann ich besser reagieren. So eine beidseitige Kommunikation zwischen Pferd und Mensch möchte ich nicht mehr missen!
Welche Pferde sind betroffen?
Nun ist natürlich nicht jedes brave, coole Pferd im Zustand der erlernten Hilflosigkeit. Das ganz sicher nicht! Aber es lohnt sich, einmal genauer hinzuschauen:
- Zeigt das Pferd neugieriges Verhalten? Oder schaut es sich neue Dinge gar nicht wirklich an und wirkt eher desinteressiert?
- Zeigt es nur die Verhaltensweisen, die der Mensch vorgibt? Und bewegt es dabei noch nicht einmal seine Ohren? Wenn das Ohrenspiel zeitweilig fehlt oder stark eingeschränkt ist, sollten wir uns wirklich Gedanken machen!
- Spult das Pferd übereifrig-dienstbeflissen seine Übungen ab, wirkt aber dabei eher unterwürfig und mechanisch als lebendig-fröhlich?
- Wie ist sein Augenausdruck? Schaut uns das Pferd mit weichen, strahlenden Augen an? Oder wirken die Augen klein und / oder der Augenausdruck leer und das Pferd schaut eher an uns vorbei?
- Wie wirkt seine gesamte Ausstrahlung? Zeigt es Stolz und freie Bewegungen?
- Wie ist der Gesundheitszustand? Hat das Pferd immer wieder Magen- und / oder Darmprobleme, die einfach nicht durch die Fütterung in den Griff zu bekommen sind? Leidet es vielleicht auch unter chronischen Hautproblemen?
Nehmen Sie sich die Zeit, Ihr Pferd daraufhin zu beobachten!
Unter meinen Kundenpferden gibt es viele Importtinker. Dort findet man besonders häufig Pferde im Zustand der erlernten Hilflosigkeit. Aber natürlich sind auch andere Rassen betroffen. Und wie man an Cimbria sehen konnte: Dieser Zustand kann noch lange anhalten, auch wenn der eigentliche Grund dafür nicht mehr besteht. Und diese Pferde neigen auch später sehr leicht dazu, wieder in diesen Zustand zurückzufallen.
Es lohnt sich also, diesen Gedanken nicht gleich beiseite zu schieben. Und wir sollten immer wieder einmal überdenken: Was ist mir im Zusammensein mit meinem Pferd wichtig? Worum geht es mir dabei? Oft sind wir so mit diversen Aktivitäten beschäftigt, dass wir ganz vergessen uns zu fragen: Welche Beziehung wünsche ich mir zu meinem Pferd?
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