Das möchten wir alle glauben, denn wir alle lieben unsere Pferde. Wir tun alles für sie, machen uns Gedanken über Pferdehaltung, Fütterung, Ausbildungsweg und lassen uns das alles einiges an Geld und Zeit kosten.
Unserem Pferd soll es gut gehen, wir möchten mit ihm zusammen Spaß haben und unsere Freizeit genießen.
Darum verstehe ich es vollkommen, dass Pferdehalter oft ein wenig ungehalten reagieren, wenn ich in Beratungsgesprächen das Thema „Stress“ anschneide. Es ist ein heikles Thema. Man fühlt sich schnell angegriffen und empfindet es als Vorwurf, wenn man von außen auf den möglichen Stress des eigenen Pferdes angesprochen wird. Denn man bemüht sich doch so sehr, alles richtig zu machen!
Meist ist man davon überzeugt, dass man seinem Pferd jedes Unwohlsein anmerken würde. Und außerdem ist das Pferd doch so vollkommen ruhig! Total cool in allen Situationen! Müsste es nicht bei Stress unruhiger und nervöser sein?
Ich möchte sicher niemandem absprechen, sein Pferd wirklich gut zu kennen. Aber Pferde kommunizieren so fein und manchmal schleicht sich im Laufe der Jahre so allerlei ein - da darf man also (besonders bei chronisch kranken Pferden) doch gerne immer mal wieder über dieses Thema nachdenken.
Was ist überhaupt Stress?
Laut Wikipedia bezeichnet Stress die durch spezifische äußere Reize hervorgerufenen psychischen und physische Reaktionen bei Lebewesen, die befähigen, besondere Anforderungen und auch die dadurch entstehende körperliche und geistige Belastung zu bewältigen.
Wenn man dann beginnt mehr zu lesen, bemerkt man sehr schnell, wie umfangreich und vielfältig das Thema Stress ist: Stressreaktionen verlaufen in verschiedenen Phasen, es gibt kurzfristigen und dauerhaften Stress, aktiven Stress und passiven Stress, Eustress und Disstress, verschiedene Reaktionen auf Stress und noch so einiges mehr. Nach einigen Recherchen komme ich zu dem Schluss: Ich schaffe es nicht, hier einen kurzen, gut lesbaren und trotzdem biologisch korrekten Abriss als Einführung zu schreiben. Ich picke mir also nur ein paar Punkte heraus, die besonders häufig in meinen Beratungsgesprächen auftauchen.
Viele Dinge, die wir selbstverständlich von unseren Pferden erwarten, entsprechen zunächst einmal nicht ihrer Natur und müssen erst langsam erlernt werden. Und oft genug denkt man dabei über manche Schwierigkeit, die das Pferd damit haben könnte, so gar nicht nach, weil uns selber manche Abläufe so selbstverständlich sind. Auch die Haltung unserer Pferde (so gut sie auch sein mag!) bringt immer einmal wieder unterschiedliche Stressfaktoren mit sich. Pferde sind zwar erstaunlich anpassungsfähig, wir stellen aber auf der anderen Seite enorme Ansprüche an eben diese große Anpassungsfähigkeit.
Es ist also keinesfalls in irgendeiner Form „ehrenrührig“, sich einzugestehen, dass das eigene Pferd Stress hat. Ganz lässt es sich einfach nicht vermeiden und auch in freier Wildbahn gibt es Stresssituationen. Stress gehört zum Leben dazu. Entscheidend ist aber: Wir sollten lernen, Stress zu erkennen und besonders anhaltenden, dauerhaften Stress so gut es geht abstellen.
Auch wenn die Angaben schwanken, so sprechen die Zahlen doch eine deutliche Sprache: 37 – 70 % der Freizeitpferde leiden unter Magenproblemen. Selbst wenn man die niedrigen Werte annimmt, so leidet mindestens jedes 3. Freizeitpferd an Magenproblemen. Lesen Sie dazu gerne auch hier: Mein Pferd hat doch kein...
Eine andere, neuere Untersuchung hat ergeben, dass viele Pferde an Depressionen leiden. Jedes 4. Pferd in dieser Untersuchung zeigte solche Symptome, wie sie typischerweise auch bei Menschen mit Depressionen festzustellen sind. Gut - es wurde an Reitschulpferden untersucht. Trotzdem zeigt diese Untersuchung: Auch Pferde können an Depressionen erkranken und tatsächlich kann man das durchaus häufig beobachten. (Ein Artikel darüber:Diese Zahlen zeigen also deutlich: Die Wahrscheinlichkeit, dass Stress in der Krankheitsgeschichte vieler Pferde eine große (oft genug die entscheidende) Rolle spielt, ist enorm groß. Darum sind wir es unseren Pferden schuldig, dass wir den Gedanken zulassen: „Ja, mein Pferd hat möglicherweise mit manchen Faktoren in meiner Haltung oder Ausbildung Probleme!“ Denn das kommt einfach vor, auch wenn wir es noch so gut mit ihm meinen. Pferde leben in einer solch anderen Welt und Wirklichkeit als wir Menschen, dass wir manche Dinge übersehen, weil sie für uns unwichtig sind – für das Pferd aber eine extrem wichtige Rolle spielen.
Warum übersehen wir Stress so oft?
Stress hat vielfältige Gesichter und gestresste Pferde wirken nicht zwangsläufig nervös. Gerade auch den länger anhaltenden Stress kann man oft schwer erkennen. Zunächst einmal muss man sich anschauen, welche Möglichkeiten ein Pferd hat, auf Stress zu reagieren. Wie jedem Lebewesen stehen auch dem Pferd verschiedene Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung. Diese Lösungsmöglichkeiten stehen gleichberechtigt nebeneinander. Welche dieser Strategien gewählt wird, sagt nichts über die Stärke des empfundenen Stresses aus. Man spricht dabei auch von den 4 F´s:
- Flirt: Das Pferd versucht zu kommunizieren, damit abzulenken oder zu beschwichtigen.
- Flight: Das Pferd flüchtet.
- Fight: Das Pferd kämpft, greift an.
- Freeze: Das Pferd „friert ein“, erstarrt, versucht so unauffällig wie möglich zu bleiben.
Von den eher blütigen, schnelleren Pferdetypen kennen wir als recht häufig genutzte Strategie die Flucht. Oder zumindest das nervöse Herumtänzeln, das die Bereitschaft zur Flucht anzeigt... Das sind die Stressreaktionen, die wir alle kennen und ernst nehmen. Aber in bestimmten Situationen wird oft auch eine der anderen Strategien gewählt: Auch die "Flirt"-Reaktion haben wir alle bestimmt schon beobachten können, aber nicht unbedingt als Stress wahrgenommen, sondern eher als niedliche oder auch nervige Spielerei: Da schnabbelt zum Beispiel der junge Wallach bei der Bodenarbeit ständig am Strick oder in einer Herde wird weit über das normale Maß hinaus gespielt, so dass manche Pferde gar nicht zur Ruhe kommen.
Ein Pferd, das auf Stress mit Kampf (also Aggressivität) reagiert, wird ganz schnell als "Verbrecher" oder "dominant" abgestempelt. Dabei wird es durch feine Signale sicher schon im Vorfeld signalisiert haben, dass es ihm gerade zu viel wird. Manchmal ist es nur ein Blinzeln und kurzes Kopfabwenden zur Beschwichtigung - und übersehen wir dieses, folgt scheinbar aus dem Nichts der Angriff. Auch ich habe lange gebraucht, ein kurzes Kopfabwenden bei Maible wirklich Ernst zu nehmen und das komplette Abwenden von mir zu repektieren als allerhöchstes Alarmsignal dafür, dass es gerade WIRKLICH nicht nicht mehr geht. Üblicherweise werden solche Verhaltensweisen ja interpretiert mit "Die entzieht sich gerade, das darf sie nicht!" Aber wieviel Frust entsteht beim Pferd, wenn es uns durch seine feinen Signale (z.B. besagtes Blinzeln oder Kopfabwenden) etwas mitteilen möchte und wir ignorieren das oder erhöhen daraufhin sogar den Druck?
Die Lösung darf hier also nicht sein, dem Pferd das "böse" Verhalten abzutrainieren und dafür immer schwerere Geschütze aufzufahren. Man kann das zwar sicher "erfolgreich" tun, aber die Gefahr, das Pferd damit direkt in die erlernte Hilflosigkeit zu bringen, ist enorm groß. Die Lösung sollte vielmehr sein, dass wir immer besser lernen, auch die ganz, ganz feinen Signale unserer Pferde zu lesen und auch Ernst zu nehmen. Hier kann ich die Kurse von Stine Küster (www.pferstand.com) nur sehr empfehlen.
Ein eher schwereres, weniger wendiges Pferde würde in einer ähnlichen Situation möglicherweise zunächst „einfrieren“ und nur noch nur sehr gedämpftes, möglichst unauffälliges Verhalten zeigen. Das Pferd wird immer verhaltener, langsamer und bleibt im Extremfall einfach komplett stehen und bewegt sich gar nicht mehr. Oft wird dieses Verhalten als besonders cool empfunden oder aber gerne auch als Sturheit gewertet. Häufig höre ich "Mein Pferd lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Aber oft hat er einfach keinen Bock. Der schlurft da nur rum oder bleibt gleich ganz stehen."
Hier ist es sehr wichtig zu schauen: In welchen Situationen ist das so? Wie verändert sich die Mimik? Kommt das nur punktuell in bestimmten Situationen vor? Oder ist das generell bei der Arbeit oder sogar in allen Lebensbereichen des Pferdes so? Sollten wir uns vielleicht gar über erlernte Hilflosigkeit und / oder sogar über Depressionen nachdenken? Bitte nicht falsch verstehen: Natürlich gibt es Pferde, die einfach wirklich sehr ruhig, ausgeglichen und nervenstark sind. Da sollte man natürlich nicht unnötig Probleme hineindeuten. Aber in meinen Beratungsgesprächen geht es ja vor allem um chronisch kranke Pferde - und hier sind solche Überlegungen unumgänglich.
Und die Konsequenz daraus?
Wenn wir also nach genauerem Beobachten und Nachdenken doch den Gedanken zulassen, dass unser Pferd möglicherweise in bestimmten Lebensbereichen unter Stress leidet, versuchen wir dieses natürlich zu verändern. Wir setzen uns dann anders mit der Sichtweise unserer Pferde auseinandersetzen, können vielfach plötzlich besser wahrnehmen, wo die Anpassungsfähigkeit unseres Pferdes sehr strapaziert oder sogar überfordert wird. Wir werden es sicher nicht schaffen, wirklich alles für jedes Pferd perfekt zu gestalten. Das müssen wir auch nicht! Aber wir sollten uns bewusst machen: Je mehr sich die Lebensbedingungen von der eigentlichen Natur des Pferdes entfernen, je weniger es also seine natürlichen Bedürfnisse stillen kann, desto leichter wird es zu stressbedingten Erkrankungen kommen. Also ist es ratsam, zumindest die Faktoren, die wir beeinflussen können, günstiger für das Pferd zu gestalten.
Etwas möchte ich hier ausdrückliche betonen: Ich hatte eben geschrieben, es sei wichtig, dass das Pferd seine natürlichen Bedürfnisse stillen kann. Daraus ergibt sich auch, dass es falsch wäre, ein Pferd aus lauter Sorge vor Stress nur noch in Watte zu packen und zwar scheinbar stressfrei - aber doch sehr reizarm zu halten. Denn Pferde wollen auch ihr umfangreiches Sozialverhalten ausleben können, wollen erkunden, wollen ihr Neugierverhalten stillen, wollen lernen und vieles mehr. So kann auch Langeweile eine Form von Stress verursachen. "Stressfrei" ist also keinesfalls gleichzusetzen mit "reizarm". Ein gewisser Stress gehört zum Leben dazu, auch im Leben der Pferde. Wo aber dauerhaft die Anpassungsfähigkeit überfordert wird, kommt es leicht zu stressbedingten Erkrankungen.
Lesetips:
„Die Intelligenz der Pferde“ von Marlitt Wendt, erscheinen im Cadmos Verlag
"Stress lass nach" von Marlitt Wendt, erschienen im Evipo-Verlag
Die Internetseite www.pferdsein.de ebenfalls von Marlitt Wendt
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